Der Muskel hinter unseren Augen
Vielleicht erinnern Sie sich ja auch noch an die gute alte Zeit. Sie spazierten durch den Supermarkt und schauten ganz spontan, was die Regale denn so an Zutaten für das Abendessen parat haben.
Oder Sie warfen einen Blick in den Kühlschrank und machten sich Gedanken darüber, was Sie aus den vorhandenen Dingen noch Kreatives zaubern können. Ja, ganz ohne Google, Smartphone, Chefkoch.de & Co.
Ach, das waren noch Zeiten, als Menschen noch locker aus der Hüfte heraus ein Gericht kochen konnten – einfach aus dem, was da ist. Damals, als Menschen ganz ohne digitale Unterstützung dazu in der Lage waren, ihren Verstand, ihre Kreativität und vor allem ihre Spontanität einzusetzen.
Was wären wir heute ohne all diese Food-Kanäle auf Instagram und diese Newsletter von Rezept-Websites? Mittlerweile lassen sich Leute ja auch schon fertig zusammengestellte Zutaten in Kochboxen zusenden, um das mitgelieferte Rezept einfach herunterzukochen. Schöne neue Welt.
Nicht, dass all das an sich schlecht wäre – Inspirationen können ja auch was Feines sein. Über kurz oder lang bleibt jedoch die Kreativität und Spontanität auf der Strecke. Oder, um es deutlicher zu sagen: Durch all diese kulinarischen Kreativprothesen kochen wir vielleicht mehr, aber tatsächlich verlernen wir mit der Zeit das Kochen.
Entweder wir beherrschen sie oder sie beherrschen uns irgendwann
Nicht anders ist es jetzt mit der überwältigenden Zahl an K.I-Tools. Die künstliche Intelligenz sagt Ihnen, wann Sie aufstehen sollten, wie Sie deinen Tag organisieren, wen Sie bestenfalls zuerst anrufen. Sie spuckt Ihnen Präsentationen aus, designt Ihnen Bilder und Grafiken, schreibt Ihnen Texte, denkt sich Slogans aus, beantwortet Ihre E-Mails …
Ich will an dieser Stelle gar nicht die Qualität der Ergebnisse bewerten, welche die K.I. abliefert. Chat GPT, Google Bard, Midjourney und wie sie alle heißen, können sicher beeindruckende Arbeit leisten und vieles im Alltag erleichtern.
Ein kleiner Segen: Dies verleitet auch Menschen dazu, die vorher wenig mit Organisation, Kreativität und Problemlösungskompetenz am Hut hatten, nun vermehrt künstliche Intelligenz zu nutzen. Wenn sie dadurch ihren Alltag nun besser meistern können – geschenkt. Dann ist es tatsächlich ein Upgrade.
Viel schlimmer sieht es allerdings aus, wenn eigentlich gut organisierte, kreative, spontane und selbst denkende Menschen im Arbeitsalltag ihren heiligen Gral in der künstlichen Intelligenz gefunden haben wollen.
„Welch ein Glück! Endlich kann damit aufhören, mich zu organisieren, mir kreative Gedanken zu machen und mein Gehirn selbst zu benutzen“. Gut, das werden wohl die wenigsten unter ihnen denken, wenn sie sich über K.I.-Tools und ihre Resultate freuen. Doch auch sie könnten sich davon verführen lassen. Noch fataler: Sie verlassen sich blind auf K.I.-Tools und das, was diese so von sich geben.
ChatGPT zum Beispiel kann Sie hervorragend dabei unterstützen, Anregungen für Textinhalte zu holen, Texte zu strukturieren, zu korrigieren oder diesen einen anderen stilistischen Schliff zu verpassen. Vielleicht kann es ja sogar einen ganzen Text schreiben.
Meine persönliche Empfehlung:
Bevor man ein solches Tool mit dem Ziel nutzt, einen guten, fundiert recherchierten, stimmig aufgebauten und auf den Punkt formulierten Text zu verfassen, sollte man all dies zunächst auch ohne ChatGPT beherrschen – sonst lernt man es nie und der nächste Internet-Ausfall wird zur persönlichen Krise.
Noch einmal: Die Resultate künstlicher Intelligenz sind oft atemberaubend, aber sie können auch auf andere Art und Weise beraubend wirken – auf die Kreativität, auf die Spontanität, auf das Denkvermögen und die Fähigkeit, Dinge pragmatisch anzugehen.
Vergessen wir nicht: Hinter unseren Augen verbirgt sich etwas, das wie ein Muskel trainiert werden will. Es ist unsere natürliche Intelligenz, unser kreatives wie analytisches Potenzial, das wir Tag für Tag fordern müssen, wenn wir es verbessern oder zumindest erhalten wollen.
Es spricht nichts dagegen, K.I.-Hilfsmittel zu verwenden, um seine Arbeit schneller oder besser zu machen. Doch es ist und bleibt nur ein Werkzeug, das man selbst beherrschen muss – und nicht umgekehrt.