Bonjour, kennen Sie Claude?

Dragan Popovic

Kochen können sie ja wirklich ganz hervorragend. Kicken auch. Aber hattest du Anfang der 2000er Jahre auch das vermeidbare Glück wie ich, ein französisches Auto fahren zu dürfen? Mag sein, dass Renault, Citroen & Co heute ganz fantastische Autos bauen. Doch weil ich als naiver Fahranfänger quasi die Uhr nach Pannen und Defekten an meinem Twingo stellen konnte, habe ich heute eine, naja, sagen wir es mal diplomatisch, gefestigtere Meinung über Technologien, die aus Frankreich kommt – oder französisch klingt. Irgendwann im Laufe dieses Jahres hörte ich dann von einem KI-Sprachmodel namens Claude, das ChatGPT von OpenAI in den Schatten stellen soll. Das Modell „Sonnet 3.5“ schlägt also GPT-4 – na, „oh là, là!“ aber auch. Aber stimmt das nun wirklich?

Na, na, na, bitte keine Vorurteile

Innerlich zog sich alles in mir zusammen aber meine Neugier als ChatGPT-Nutzer war dann doch größer als meine Vorurteile gegenüber französischer Technik. Also besuchte ich die Website von Anthropic – so heißt nämlich der Laden, dem Claude gehört. Und ich sollte nicht enttäuscht werden – also, was die Bestätigung meiner Vorurteile betrifft. Die ganze Aufmachung, die Farbgebung, das Logo … oh mon dieu. Der ganze Look gab mir irgendwie das Gefühl, der französische Kultursender Arte hätte hier seine Finger mit im Spiel. Enchanté.

KI oder Kunstprojekt? Das war mir nicht sofort klar.

Aber genau so, wie man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen soll, soll man eine KI-Sprachmodell nicht zum Teufel jagen – bloß wegen der Aufmachung, als hätte ein Minimalismus-Kritzelkünstler mit Moustache und Ringelshirt das Design für eine Lobotomieklinik-Website entworfen.

Wäre das mein Röntgenbild, wäre ich besorgt, lieber Claude.

Mais non, die Wahrheit ist: Claude beziehungsweise Anthropic haben mit Frankreich tatsächlich so viel zu tun wie Renault mit technisch ausgereiften Autos. Anthropic ist eine von vielen KI-Butzen aus dem Silicon Valley. Aber dafür eine ziemlich erfolgreiche, wie es scheint.

Und was kann Claude denn nun alles?

Für mich als Content Marketing Manager und Copywriter ist es natürlich generell super interessant zu wissen, was so ein KI-Sprachmodell wirklich drauf hat. Erst Recht, wenn in vielen Benchmark-Tests herausgekommen sein soll, dass Claude das allseits beliebte ChatGPT auf nahezu allen Ebenen in den Schatten stellt. Also habe ich es mal ein paar Monate getestet und ChatGPT aus meinem täglichen Tun verbannt.

Zunächst einmal findet man die Benutzeroberfläche in gewohnter Chat-Aufmachung vor. So weit, so bekannt und gewohnt. Womit Claude aber jetzt schon für mich gegen ChatGPT gewonnen hat, ist die Funktion namens „Projects“. Hier kann man, wie der Name schon vermuten lässt, einzelne Projekte anlegen – etwa einzelne Kunden mit ihren individuellen Vorgaben. Diese Projekte kann man nun mit lauter Input füllen etwa mit allerhand Firmenbroschüren oder Referenztexten in Form von PDFs und Word-Dateien.

Wir können Claude also bis zum Erbrechen kundenspezifisches Hintergrundwissen eintrichtern. Dazu kann man der KI noch direkte Anweisungen geben, was sie bei der Textarbeit mit diesem Kunden beachten soll – zum Beispiel, wie er welchen Text zu strukturieren hat. Oder dass die Zielgruppe von Kunde aus technikaffinen Mitarbeitern der mittleren Führungsebene besteht. Oder dass die Inhalte lediglich auf dem Blog und auf LinkedIn veröffentlicht werden. Oder, dass eine kreativ-frische, freundschaftliche Tonalität an den Tag gelegt werden soll. Oder was das Ziel der Newslettern ist. Oder was auch immer.

Der Vorteil an dieser Projects-Funktion ist: Claude weiß von Anfang an Bescheid, was bei welchem Kunden Sache ist. Man setzt das Projekt ein Mal umfassend auf und spart sich in Zukunft eine ganze Menge Prompting-Zeit, sobald man einen neuen Chat startet. Und dank der soliden Wissensgrundlage hat man eine inhaltlich konsistente Linie, wenn Claude mal etwas texten soll. Das ist für mich der alles entscheidende Vorteil. Denn wir wir ja alle wissen: Je besser der Input desto besser ist das, was hinten raus kommt. Und das Prinzip Glück und Zufall ist keines, das ich in meine Arbeit einfließen lassen will.

Ist Claude nun der Sieger? Thema beendet?

Nicht so eilig. Wir wollen ja nun auch noch herausfinden, wie gut Claude im Vergleich zu ChatGPT texten kann. Das habe ich in ein paar Kreativaufgaben für euch herausfinden können. Bei Aufgaben wie der Slogan-Entwicklung, Brainstormings oder Headline-Inspirationen hat Claude um Längen besser abgeschnitten als ChatGPT. Und dasselbe gilt tatsächlich auch für das Generieren kompletter Texte.

Wobei ich unbedingt klarstellen will: Wir reden hier vom reinen Vergleichsergebnis, und nicht davon, dass Claude nun die allerschönsten Texte der Welt schreibt oder einen Kreativitäts-Nobelpreis verdient. Oder noch anders ausgedrückt: Wer schon von ChatGPTs Textkünsten begeistert ist, dürfte bei Claude das Gefühl haben, mit einer höheren Macht zu hantieren.

Was mir persönlich sehr gut gefällt: Claude verzichtet weitestgehend auf die typischen Phrasen, die ChatGPT immer wieder gerne brabbelt, wie

„Es ist wichtig zu beachten, dass …“
„Ein weiterer entscheidender Punkt ist …“
„Es könnte argumentiert werden, dass …“
„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass …“

und weitere dieser furchtbar dämlichen Bullshitformulierungen, anhand derer man einen KI-generierten Text einfach mal 200 Meter gegen den Wind wittern kann. Hier habe ich das Gefühl, dass er sich eines anderen, irgendwie vielseitigeren Wortschatzes bedient und dabei wirklich zu kreativeren, menschlicher anmutenden Ergebnissen fähig ist. Da haut er glatt Dinge raus, die mich wirklich positiv überraschen – entsprechendes Prompting natürlich vorausgesetzt.

Ab und zu rutschen dann doch noch ein paar trashige Zeitgeist-Floskeln à la „auf ein neues Level heben“ durch. Oder Geschäftsführer-Powersätze wie „Wir bieten Ihnen maßgeschneiderte Lösungen“ – ach, was rede ich denn da – „Wir bieten Ihnen die perfekte Lösung!“. Oder „Profitieren Sie von unserer langjährigen Expertise“. Manchmal will Claude auch mir dir typischerweise irgendwelche „Ideen fliegen lassen“. Nichtsdestotrotz: Während ChatGPT sehr oft ziemlich flache Phrasen als unglaublich kreativen Output liefert, bleibt bei Claude viel mehr hängen, was man tatsächlich gebrauchen kann.

Geht es um SEO, kann man auf Claude einfach eine CSV-Datei mit Keywords und Suchvolumina als Kontext hochladen. Die Keywords baut die KI, wenn man sie entsprechend gut instruiert, auch relativ gut und natürlich in das Textumfeld ein. Dennoch kommt man nicht umhin, hier und da händisch nachzujustieren – wie eigentlich bei fast allem, wenn man mit KI-Tools arbeitet. ChatGPTs Ergebnisse auf diesem Gebiet konnten für mein Empfinden jedenfalls ebenso wenig mithalten.

Und überhaupt ist Claude sehr fix und fähig im Verarbeiten von Daten, die man ihm etwa in Form von seitenlangen PDFs serviert hat. Mehr noch, Claude kann diese Daten auch wunderbar interaktiv visualisieren – und dann kannst du das Ergebnis in der Funktion namens „Artifacts“ (allein diese hätte einen eigenen Artikel verdient) sogar noch live ausprobieren.

Was Claude im Gegensatz zu ChatGPT aber nicht kann: Das Internet nach Infos durchforsten. Ja, das Feature in ChatGPT nimmt einem manchmal schon einiges an Googelei ab. Doch das ist kein Garant dafür, dass die Infos, die sich die KI aus den Ergebnissen zu ziehen scheint, immer der Wahrheit entsprechen. Bei Nachfrage heißt es nicht selten: „Entschuldige die Verwirrung, in den von mir angegebenen Quellen finden sich tatsächlich keine Anhaltspunkte dafür, dass …“.

Wie viel von der Zeitersparnis noch übrig bleibt, nachdem man damit beschäftigt war, die gelieferten Informationen zu verifizieren, muss jeder für sich selbst herausfinden. Ich persönlich kann eine Suchmaschine jedenfalls noch gerade so selbst bedienen, weshalb mir das Internetsuchen-Feature beim Texten nicht wirklich wichtig ist.

Auch kann Claude im Gegensatz zu ChatGPT keine Bilder erzeugen. Und dafür bin ich ehrlich gesagt sehr dankbar. Denn machen wir uns nix vor: Die Ergebnisse aus der Bildgenerierung in ChatGPT sind im Vergleich zu Midjourney oder meinetwegen auch Ideogram geradezu grottig, nicht selten kitschig und in den meisten Fällen einfach am Rande des Fremdschäm-Maximums.

Entsprechende LinkedIn-Postings beweisen das Tag für Tag. Also nein, auch dieses Feature ist nicht kriegsentscheidend für meine Textarbeit.

Bilder wie diese haben was von Fieberträumen. Und es gibt Menschen, die posten so etwas Tag für Tag auf LinkedIn.

Voulez-vouz KI avec moi? Ja, Claude ist wirklich gut

Mein persönliches Fazit – auch wenn es aus meinen vorherigen Worten nicht unbedingt so glasklar hervorgeht: Ich finde Claude gut.

Nein, ernsthaft, Claude ist wirklich gut – als Werkzeug zur Textarbeit. Besser als ChatGPT ist es allemal und die Ergebnisse überraschen mich manchmal positiv. Ich nutze es gerne für Brainstormings, Text-Outlines, Strukturen, Persona-Entwürfe, Zielgruppenanalysen oder für erste Ideen. Eben einfach als kreativen Dreikäsehoch-Copiloten, der auch mal seinen Senf dazugeben darf.

Und ja, Claude verschafft mir wirklich eine Zeitersparnis beim Schreiben, wenn ich dank guter Vorlagen und Inspirationen schneller einem Ergebnis gelange, das meinen Ansprüchen als Copywriter gerecht wird. Das schafft man aber auch nur, wenn man sein Hirn morgens nicht an der Kaffeemaschine liegenlässt und den Rest des Tages glaubt, Claude würde schon die ganze Arbeit erledigen.

Momentan ist die Nutzungskapazität von Claude im Vergleich zu ChatGPT ohnehin eher knapp bemessen. Ich will nicht sagen, dass sie deutlich eingeschränkt ist, aber man weiß nie genau, wann es gegen 14 Uhr plötzlich heißt „10 messages left until 5 p.m.“. Man überlegt es sich zweimal, ob man jedes Ergebnis bin ins letzte Detail verfeinern lassen und endlose Konversationen mit einem blöden Bot führen will oder es nicht einfach mal selbst anpasst.

Bonus: Ein kleiner, persönlicher KI-Rant.

Das Tolle an künstlicher Intelligenz ist doch, dass Sie für uns ekelhaft lästige Sträflingsaufgaben innerhalb von Sekunden erledigt, Inspirationen liefert, uns hier und da bei der Kreativ- und Fleißarbeit unterstützt und eine ganze Menge leichter macht. Und es mag auch sein, dass andere Texter das in ihrer täglichen Praxis völlig anders handhaben – das muss jeder für sich selbst entscheiden –, aber für mich sind und bleiben generative Sprachmodelle einfach nur ein Werkzeug. Nicht mehr und nicht weniger. So wie sich ein Zimmerer darüber freut, dass er seine Zuschnitte nun mit einer Tischkreissäge statt in mühevoller Handarbeit machen kann freue ich mich darüber, dass ich oft schneller auf Ideen, Formulierungen oder Textstrukturen komme.

Ich habe aber bis jetzt noch nie erlebt, dass mir ChatGPT oder Claude einen Text ausspucken, den ich auch nur annähernd 1:1 übernehmen konnte. Jedenfalls nicht nach meinen Ansprüchen. Nicht, weil ich ein grundskeptischer Mensch oder einfach nur zu doof zum prompten wäre. Sondern einfach deshalb, weil das KI-Gesülze aus fast jeder Zeile trieft. Und das sieht man in den heutigen LinkedIn-Posts oder unzähligen Artikeln auf diversen Websites oft genug. Sie schreien förmlich: „Achtung, Achtung, alle mal hersehen, ich bin ein KI-generierter Text! Lies mich, obwohl du dir den ganzen Mist selbst generieren könntest!“ Ach, das Internet ist mittlerweile voll davon.

Wenn ich einen Text lese, dann möchte ich die menschlichen Gedankengänge der Person erkennen, die ihn geschrieben hat. Die Art und Weise, wie sie ihre Argumente herleitet, welche Quellen sie heranzieht, welchem roten Faden sie folgt. Ich möchte in Texten die Stimme einer Marke heraushören und ihre Seele erkennen können. Ein stochastischer Papagei wie ChatGPT oder Claude – so gut sie mittlerweile auch sein mögen – tun, was sie sollen: Auf Basis ihrer Trainingsdaten Wörter zu einem bestimmten Thema in einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu Sätzen aneinanderreihen. Und das klappt mitunter auch ganz hervorragend, wenn man weiß, was man tut.

Aber nennt mich altmodisch, nennt mich zurückgeblieben – ich tue mich nach wie vor schwer damit, KI-Inhalten denselben Wert zuzuschreiben, der hinter guten Inhalten mit Humanhintergrund steckt. Und das sage ich nicht, weil ich von Beruf Texter bin und meine Felle davonschwimmen sehe. Sondern deswegen, weil ein Text mit dem Prompt „Hey Claude, schreibe ein melancholisches aber kraftvolles Gedicht über den Herbst im Stil von Johann Wolfgang von Goethe“ für mich nie dasselbe transportieren kann, als stammte es tatsächlich von ihm. Und das, obwohl das KI-Ergebnis textlich vielleicht wirklich ganz gut ist.

Tatsächlich ist das Internet inzwischen geflutet mit künstlich intelligentem Mist, als hätte einer die Klärwerksschleusen geöffnet. Von KI-Stimmen vorgelesener TikTok-Schrottcontent. Eine Flut an Kinderbüchern auf Amazon. KI-Content-Deponien, die nur Google-Rankings im Sinn haben aber jede menschliche Intelligenz beleidigen. KI-Influencer, denen offenbar echte Menschen folgen. 3D-gerenderte Affen-Avatare, die mir in YouTube-Shorts komplexe geopolitische Zusammenhänge erklären wollen. Und, mein persönlicher Favorit: LinkedIn-Posts, gespickt mit automatisiert gesetzten Emojis und gekrönt mit KI-generierten Bildern, die so voller Fehler sind, dass man sich fragt: Gibt sich denn niemand mehr auch nur ansatzweise Mühe?

Es ist, wie es ist: KI-Inhalte sind das Mikroplastik des Internets. Und so, wie YouTube, Facebook oder TikTok alles und jedem die Möglichkeit gegeben haben, ihren Senf in die große weite Welt zu posaunen, sind wir dank künstlicher Intelligenz nun noch einen ganz großen Schritt weiter. Wir leben in interessanten Zeiten. Bleibt menschlich!